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TCE-Blog

16. Januar 2019 · Erfahrungsbericht

Morgen esse ich normal - ein Tag in der Krankheit

Zu Beginn der Therapie am TCE schreibt jede(r) den „Tag in der Krankheit". Beschrieben wird ein typischer Tag in und mit der Krankheit, und zwar so genau und detailliert wie möglich: Was habe ich getan? Was habe ich gedacht? Was habe ich gefühlt? Wie habe ich meinen Körper wahrgenommen? Kaum ein anderer Schreibauftrag vermag die Schrecken einer Essstörung so deutlich einzufangen.

Es ist 6 Uhr.
Mein Handywecker klingelt. Ich mache ihn aus mit dem Wissen, dass er um 6:10 Uhr noch einmal Alarm schlagen wird. Ich drehe mich um und kuschle mich an meinen Freund, der neben mir liegt. Er nimmt mich in den Arm. In meinem Kopf male ich mir schon einen Plan aus, wie mein Tag ablaufen soll, was ich noch zu erledigen habe und wann, wie viel und ob ich überhaupt esse.
„Bitte lass es mich heute schaffen, nicht zu erbrechen".
Gestern blieb die Mahlzeit nicht drin. Ich musste das Essen einfach loswerden. Ich hasse mich dafür so sehr.
Ich stehe auf, wiege mich, gehe duschen, richte mich und wecke dann meinen Freund.
Während ich Kaffee mache, wiege ich 160 g Pflaumen, 100 g Biojoghurt und 15 g Müsli ab. Das macht ca. 210 kcal. Das ist mein Mittagessen fürs Praktikum.
Für den Weg nehme ich mir noch Obst mit. Meistens eine Banane oder einen Apfel.
Mein Freund und ich rauchen noch eine und fahren beide gegen 07:00 Uhr los.
Er in die BOS - Berufsoberschule, ich ins Praktikum.
In der ersten Pause um 09:00 Uhr gehe ich runter, hole mir meinen dritten Kaffee und rauche meine vierte Zigarette.
Alle essen um mich herum.
Ich liebe den Geschmack von Zigarette und Kaffee.

Um 13:15 Uhr mache ich meine Mittagspause.
Manchmal kommt mein Freund und bringt mir eine Brezel und eine Banane vorbei. Dann esse ich mit ihm zusammen im Auto.
Heute nicht.
Ich setze mich in die Sonne und rauche die fünfte, die sechste, die siebte Kippe. Mein Essen bringe ich nicht mehr mit runter in den Essensraum. Ich schäme mich zu essen.
Ich gehe zehn Minuten vor Pausenende wieder hoch und stelle mich in die kleine leere Küche.
Mein Magen tut weh. Ist das Hunger oder Ekel?
Ich esse im Stehen und mit starker innerer Unruhe die halbe Schüssel Müsli.
Mir ist schlecht, alles kommt mir hoch. Doch ich erbreche es nicht.

Um 15:45 Uhr esse ich manchmal die andere Hälfte. Manchmal auch erst um 17:00 Uhr bei Arbeitsende. Manchmal schmeiße ich es auch einfach in den Müll. Ich habe mir in der Arbeitszeit schon einen Plan gemacht, was ich heute Nachmittag kochen oder zubereiten könnte. Etwas, das ich evtl. auch in mir behalten kann.
Mir ist schwindlig. „Das liegt an meinem niedrigen Blutdruck", sage ich mir selbst. Beim Autofahren bin ich unkonzentriert.
Ich kaufe jeden zweiten Tag frisches Gemüse und Obst. Ich nehme außerdem noch zwei kalte Kaffees mit und fahre zu meinem Freund. Wir rauchen und trinken den Kaffee. Ich merke, wie wieder Energie in meinen Körper fließt. Ich weiß, wie zuckerhaltig das Zeug ist. Doch das stört mich gerade nicht, da ich mich so schwach gefühlt hab.

Ich fahre nach Hause und komme gegen 18:15 Uhr an.
Ich gehe in mein Zimmer, ziehe mich aus und springe in die Dusche. Danach gehe ich runter in die Küche. Überforderung bahnt sich an. Ich packe die Lebensmittel aus und mache den Herd an. Ich schneide eine halbe Zucchini, vier Cocktail-Tomaten und nehme fünf Esslöffel Erbsen und Möhren aus der Dose. Während das Gemüse kocht, schmiere ich mir ein Eiweißbrot mit Senf und belege es mit einer Scheibe Light-Käse.
„Das darf ich!" sage ich mir immer wieder. „Ich habe es schon den ganzen Tag geschafft".
Ich esse es. In meinem Kopf zähle ich währenddessen die Kalorien zusammen.
Der Teller ist leer. Sofort kommen die bösen Gedanken: Ich habe zu viel gegessen.
Mein Magen schmerzt, und das Sodbrennen meldet sich.
„Ich muss erbrechen", schießt es in meinen Kopf.
Mein Blick fällt auf den Süßigkeitenschrank.
Ich esse sechs Kekse, drei Pflaumen und trinke einen halben Liter Wasser zum Runterspülen nach. Ich kaue es kaum, damit es nicht so schnell von meinem Körper aufgenommen wird.
Ich renne hoch auf die Toilette, mit Panik überströmt, da ich es schon zu lange in mir drin habe.
Ich habe Angst. Ich zittere.
Die Klobrille hoch und sofort geht es los. Manchmal helfe ich nach, doch bei dieser Menge kommt es von alleine.
Ich erbreche, bis ich nur noch würgen kann. Ich gehe erschöpft zum Waschbecken und trinke aus dem Wasserhahn.
Mein Blick fällt auf das aufgequollene Spiegelbild des Mädchens, das mit rot unterlaufenen Augen am Waschbecken steht. Ich hasse sie für das, was sie tut und wer sie gerade ist.
Ich gehe wieder zur Toilette und wiederhole diesen Ablauf, bis nur noch Galle kommt.
Ich breche an der Badewanne zusammen und fühle mich wie ein Junkie, der sich gerade einen Schuss mit der Nadel gegeben hat.
Meine Augen tränen immer noch. Mein Körper fühlt sich taub an. Meine Gedanken halten für einen kurzen Moment inne.
Ich genieße dieses Gefühl. Endlich ist alles leer und ruhig in mir.
Ich rauche eine und trinke ca. einen Liter Wasser.

Ich weiß, dass mein Freund um 22 Uhr kommt. Jetzt ist es 19:00 Uhr. Ich bete, dass es das erste und letzte Mal für heute war. Doch ich weiß auch, dass ich noch viel Zeit hätte, es ein zweites und drittes Mal zu machen. Auch wenn ich es so sehr hasse, bin ich süchtig nach diesem Gefühl. Die Leere. Der Abfall der ganzen Anspannung, die ich 24/7 mit mir trage. Das Gefühl, nichts fühlen und denken zu müssen.
Eine Stunde später mache ich mir 150g Joghurt mit Pflaumen, Melone und einen Teelöffel selbstgemachter Marmelade. Ich esse es mit dem Vorsatz, dass das auch wirklich drin bleibt.
Doch sobald die Schüssel leer ist, wiederholt sich alles noch einmal: Ich bekomme Panik, mir kommt das Essen hoch, da sich mein Körper schon so sehr daran gewöhnt hat. Ich gehe auf die Toilette und erbreche.
Ich fühle mich erlöst.

Eine halbe Stunde bevor mein Freund kommt, mache ich mir einen körnigen Frischkäse mit drei Cocktail-Tomaten und einem Stück Gurke darin. Wenn ich schon damit abgeschlossen habe, es in mir zu behalten, mache ich mir manchmal noch ein oder zwei Scheiben Brot mit Senf und Käse dazu. Mir ist alles gleichgültig. Auch das Essen. Ich werde es sowieso erbrechen müssen.

Mein Freund kommt und wir verbringen den restlichen Abend mit Serie schauen oder reden. Er merkt, wie zerstreut ich schon wieder bin. Ich stehe total neben mir und tue mich schwer, mich auf die Serie oder unser Gespräch zu konzentrieren.

Es ist 23:00 Uhr. Wir wollen schlafen. Er will mit mir schlafen und ich will mit ihm schlafen. Doch ich kann nicht, ich fühle mich so ekelhaft und fett.
Ich weine in letzter Zeit sehr viel. Wir reden darüber, doch ich kann mich hinsichtlich der Essstörung nicht immer öffnen. Meistens weiß ich selbst nicht genau, warum es mir schlecht geht. Er tröstet mich und wir kuscheln uns unter die Decke.
Nun fangen meine Gedanken wieder an, laut zu werden, da alles um mich herum still ist.
„Morgen schaffe ich es!
Morgen erbreche ich nicht.
Morgen wird alles besser.
Morgen esse ich normal."

 

Bildnachweis: AdobeStock

Über die Autorin

Anonym, 19 Jahre, TCE-Patientin in der Intensivphase